Bernhart Schwenk
Deutsch / Englisch
2001
Mit Text von Bernhart Schwenk
20 Seiten/pages
30 Abbildungen/illustrations
Softcover
21 x 28 cm
BODENVERLEGUNG
BEMERKUNGEN ZU EINER POETISCHEN ARCHÄOLOGIE DES ALLTAGSRAUMS
Elegant wie ein Scherenschnitt des 18. Jahrhunderts wirkt der Blick ins Detail: Arabeskenhaft schwingen die zierlichen Bögen aus dem grauen Stein hinaus oder wuchern – genau umgekehrt – in ein Holzparkett hinein. Fein säuberlich hat Rose Stach aus einem Fußbodenbelag aus PVC die Form eines Orientteppichs herausgeschnitten und das isolierte Bodenstück über ein Geländer gehängt, als werde er dort gelüftet. Durch diesen Eingriff kommen die Steinplatten zum Vorschein, die sich unter dem PVC befanden. Der ausgeschnittene Teppich erscheint an dieser Stelle als Negativform, der freigelegte Boden füllt die Leerstelle aus. Zwei gegensätzliche Oberflächenqualitäten treten nun in einen unmittelbaren Dialog – das Parkettimitat in Eicheoptik und Fischgrätmuster mit der palladianischen Gußsteinkachel, ein Zeichen naturverbundener Behaglichkeit mit der Kühle eines Sechziger-Jahre-Treppenhauses.
„Lüften, lütfen“ nennt die Künstlerin ihre Arbeit und kombiniert dabei ein deutsches mit einem türkischen Wort: „Lüften, bitte!“. Mit dem Vertauschen der Buchstaben spricht Rose Stach auch die Vertauschung semantischer Ebenen an sowie Wechselwirkungen unterschiedlicher räumlicher und kultureller Auffassungen. Der Bodenbelag wird durch den künstlerischen Eingriff zum Bild, verliert an Beiläufigkeit und seine Eindeutigkeit. Er ist mehr als ein Objekt des Dekor, der Klimaisolierung, Schmutzresistenz, Geräuschdämmung oder Repräsentation, er wird wieder das, was er eigentlich ist: eine ornamentale Fläche mit einer autonomen, durchaus vieldeutigen Ästhetik. Befreit wird auf diese Weise die Kraft des Potentiellen, gelüftet das zumeist Verborgene, aufgelöst eine kulturell erstarrte und einseitig konventionalisierte Bedeutung.
In vielen ihrer Arbeiten beschäftigt sich Rose Stach mit solchen Prozessen des Aufdeckens, des Sichtbarmachens oder Neu-Aufrollens und betreibt damit eine poetische Archäologie des Alltagsraums. Ihr Ziel besteht darin, alte Zusammenhänge zu reaktivieren und bekannte Bilder mit neuer Bedeutung zu füllen. Ein Teppich transformiert sich zur Landschaft, steht metaphorisch für Geschichte und Leben, veranschaulicht eine individuelle Vergangenheit. Aus der fotografischen Skizze „Norman’s Apartment“ entwickelt sich die Bodenplastik desselben Titels. War die Fotoarbeit noch Bestandsaufnahme des real Vorgefundenen, wird die Skulptur aus industriell vorgefertigtem Teppichvelours erst durch die gezielte Verarbeitung zum Bild. Rose Stachs Werkzeug ist die Nagelschere, mit der sie in den Teppich ornamentale Lineaturen schneidet, die letztlich die Gebrauchsspuren imitieren und damit das Leben stilisieren. Licht-, Druck- und Schmutzzeichen, jener „Auswurf von Leben“ (James Baldwin), werden von der Künstlerin in einer Art Relief nachempfunden. Erinnerungen an Luftaufnahmen von Ausgrabungen antiker Städte werden wach, deren Grundrisse ebenso logisch erscheinen, wie sie uns heutigen fragmentarisch und rätselhaft bleiben.
Umgekehrt ist auch die Arbeit zu verstehen, bei der Rose Stach einen Teppichboden als Oberfläche über ein Zweisitzersofa hinweg an der Wand hinaufrollt, wobei auch das dort hängende Bild überdeckt wird. Hier werden individuelle Materialität und Volumina zugedeckt, gewissermaßen erstickt und verdrängt, unter dem Allover eines sterilen Blütenmusters.
Ein weiteres Prinzip in der Arbeit von Rose Stach ist die Verwandlung des Banalen ins Narrative. Was wäre wenn sich das Seilgeflecht, das einem Teppichklopfer aus Weidenrohr zum Verwechseln ähnlich sieht, plötzlich vom Boden aufschwänge und zum Klang von Musik wie eine Schlange zu tanzen begänne? Rose Stachs Objekt jedenfalls ist kein passives Instrument mehr, es wirkt beweglich und biomorph. Die dynamische Form ruft gleichsam Assoziationen an das Schlagen des Teppichs hervor, das letztlich auch ein durchaus rhythmisches percussionsartiges Geräusch darstellt. „Souk“, so der Titel der Arbeit, verweist auf die Unberechenbarkeiten des Gewohnten, was auch die Installation „Vacuum cleaning“ vermittelt: Die Zusammenkunft eines als Soutane „verkleideten“ Kelims mit einem Teppichminarett evoziert unerwartet eine morgenländische Aura und erinnert an Dingmetamorphosen aus Tausendundeiner Nacht. Banale Materialien werden zu Figuren aus orientalischen Vorstellungswelten und scheinen die Geheimnisse von arabischen Märkten in sich zu tragen.
Aber Rose Stach transformiert die Dinge und Situationen des Alltags nicht nur, sie bringt sie auch mit Lebensprozessen in Verbindung. Ihre Objekte bestehen nicht mehr nur nebeneinander, sondern verhalten sich zueinander. Dabei ist es weniger eine Metamorphose zum Lebewesen als eine generelle Hinwendung und ein Bewußtsein für biologische Mechanismen und deren Formäußerungen. Wenn die Künstlerin beispielsweise zwei nebeneinander positionierte Kompasse mittels Magneten irritiert, bis sie scheinbar beginnen, wie zwei Kolibris oder Insekten aufeinander zu reagieren, verweigern sie die ihnen zugedacht Funktion – nämlich Orientierung zu bieten – und spiegeln eine emotionalisierte Orientierungslosigkeit. Auch der Joy-Stick aus hautfarbenem Silikon, auf dem Fingerabdrücke den Moment der Aktion festhalten, betont eher eine sexuelle Komponente als einen sachlich motivierten Bewegungsablauf. Die Funktionalität des Dings beginnt sich zu verflüchtigen, wie die Buchstaben auf der von Rose Stach manipulierten Anzeigentafel aus der italienischen Espresso-Bar verschwimmen: Aperol lässt sich dort leicht mit Randale verwechseln und Jack Rose wird bereits nach wenigen Stunden zum guten Bekannten.
Dann werden auch die weißen Verkehrslinien auf einer Straßenkreuzung zu chaotisch vorbeihuschenden Strichen, die eine ganz andere Bodensituation abseits aller Reglements neu ausloten. Rose Stach verknüpft eine konzeptuelle Haltung des Skulpturalen mit dem Verspielten und Märchenhaften. Durch das Vertauschen und Verdrehen von Bildern werden festgelegte Kontexte durchgeschüttelt, Freiräume zum Atmen erschaffen und Zugänge zu verschlossen geglaubten Phantasiewelten ermöglicht.
Bernhart Schwenk
Kurator für Gegenwartskunst, Pinakothek der Moderne München
FLOORLAY
THOUGHTS ON THE POETIC ARCHAEOLOGY OF AN EVERYDAY ROOM
A look into detail is rewarded with the elegance of an 18th century scissor cutting: arabesque curves swoop daintily out of the grey stone or grow wildly – the exact opposite – into the wood of the parquet floor. Rose Stach has meticulously cut the form of an oriental carpet out of the PVC floor covering and hung the isolated floor-piece over a railing as though it were being aired. This act causes the paving stones, which had been concealed beneath the PVC, to become visible. The cut-out carpet appears like a negative; the exposed floor fills the empty space. Two opposing surface qualities enter into a direct dialogue – the artificial oak parquet with its fishbone pattern with the Palladian cast tile; a sign of nature’s warmth accompanied by the coldness of a Sixties’ stairway.
“Lüften, lütfen“ is what the artist calls her work, hereby combining a German word with a Turkish one: “Lüften (to air something in German), lütfen (please in Turkish)!“ By swapping two letters Rose Stach addresses the swapping of semantic levels as well as interactions of differing perceptions of space and culture. Through the artist’s manipulation the floor covering becomes an image, loses its triviality and explicitness. It is more than a mere object of décor, of isolation of climates, of resistance to dirt, of sound insulation or of representation. It once again becomes what it actually is: an ornamental surface with an autonomous, quite versatile aesthetic character. It’s potential power is thus set free, what is mostly hidden is aired; a culturally congealed definition of unilateral convention is dissolved.
In many of her works Rose Stach deals with processes of revealing, of making visible or of unrolling anew; she uses these processes to pursue a poetic archaeology of everyday rooms. Her goal lies in reactivating old correlations and filling well-known images with a new meaning. A carpet transforms itself into a landscape, stands metaphorically for history and life, illustrates an individual past. From the photographic sketch “Norman’s Apartment“ the floor plastic of the same title was developed. If the photographic work was the stocktaking of real findings the sculpture made of industrially prefabricated carpet velour only becomes an image through ist targeted adaption. Rose Stach’s tool is a pair of nail scissors; she uses these to cut ornamental lines into the carpet which then imitate the markings of use, thus stylising life. Signs of light, pressure and dirt, “life’s waste“ (James Baldwin), are recreated by the artist in a kind of relief. Memories are stirred of aerial photographs taken over excavations of antique towns, the layout of their foundations seeming just as logical as they remain fragmentary and mysterious to our present-day view.
The reverse can be understood of the work in which Rose Stach rolls a carpet surface over a twin-seat sofa and up the wall, also covering the picture on the wall. Individual materiality and volume are covered here; to an extent they are suffocated and dispelled beneath the couverture of a sterile flower pattern.
A further principle in the work of Rose Stach ist the conversion of the banal into the narrative. What would happen if the corded fabric, which looks deceivingly similar to a wicker carpet beater, suddenly reared up off the floor and began dancing to music like a snake? Rose Stach’s object is certainly no longer a passive instrument; it appears agile and biomorphic. The dynamic form simultaneously evokes associations of carpet beating, which itself represents a completely rhythmic, percussion-like sound. “Souk“, as the work is titled, refers to the unpredictability of what we are used to, which is conveyed by the installation “Vacuum cleaning“: the meeting of a kilim “disguised“ as a cassock with a carpet minaret unexpectedly evokes an oriental aura and is reminiscent of the metamorphosis from The Thousand and One Nights. Banal materials become figures from oriental fantasy worlds and appear to bear the secrets of Arabian markets.
But Rose Stach not only transforms everyday things and situations; she also links them to processes of life. Her objects not only exist alongside each other; they also relate to each other. This is less of a metamorphosis into a living being and more of a general inclination and consciousness for biological mechanisms and their expressed forms. For instance, when the artist uses two magnets to interfere with two compasses placed next to each other until they visibly begin to react to each other, like two humming birds or insects, they reject the functions they were intended for – to give orientation – and reflect an emotionalised lack of orientation. The “Joystick“ made of pinky flesh-coloured silicon, on which fingerprints hold the action of the moment, places much more emphasis on sexual components than on a factually motivated course of movements. The functionality of the thing begins to evaporate just like the letters on the info board in an Italian espresso bar become blurred due to Rose Stach’s manipulation: Aperol can easily be confused with Randale, and after very few hours Jack Rose becomes an old acquaintance.
Then the white road markings on a crossroads turn into chaotic lines that dart by frantically, plumbing the depths of quite a different ground situation far away from all conventions. Rose Stach associates a conceptual stance of the sculptural with the playful and fairytale-like. Through swapping pictures and turning them around, established contexts are shaken up, free breathing spaces are released and fantasy worlds that were believed to be shut away are made accessible.
Bernhart Schwenk
Chief Curator of Contemporary Art, Pinakothek der Moderne Munich
ROSE STACH UnderCover
Deutsch / Englisch
2014
Mit Texten von Bernhart Schwenk, Johannes Wieninger,
Simone Kimmel und Anna Kania Saj
72 Seiten/pages, 50 Abbildungen/illustrations
Hardcover, 21 x 28 cm,
EUR 18
Poetische Archäologie des Alltagsraums
Rose Stach beschäftigt sich in vielen ihrer Arbeiten mit den Prozessen des Aufdeckens, des Sichtbarmachens oder Neu- Aufrollens und betreibt damit eine poetische Archäologie des Alltagsraums.
In ihrer Fotoarbeit `Wallfahrtsorte I´ schraubt sich spiralförmig ein babylonischer Turm in den Himmel, der sich bei näherer Betrachtung als banale Teppichrolle entpuppt. Der Bodenbelag wird durch den künstlerischen Eingriff zum Bild, verliert an Beiläufigkeit und seine Eindeutigkeit. Er ist mehr als ein Objekt des Dekor, der Klimaisolierung, Schmutzresistenz, Geräuschdämmung oder Repräsentation, er wird das, was er eigentlich ist: eine autonome Form mit einer durchaus vieldeutigen Ästhetik. Befreit wird auf diese Weise die Kraft des Potentiellen, gelüftet zumeist das Verborgene, aufgelöst eine kulturell erstarrte und einseitig konventionalisierte Bedeutung.
In ihrer Arbeit `Suddenly I saw strange ornaments on the floor´ transformiert ein hellgrauer Veloursteppich zu Straßenbelag, in dem sich reliefartig Spuren von Autoreifenprofilen abdrücken. Der Teppich steht metaphorisch für Geschichte und Leben.
Rose Stachs Werkzeug ist eine Nagelschere, mit der sie in den Teppich ornamentale Lineaturen schneidet, die letztlich die Gebrauchsspuren imitieren und damit das Leben stilisieren.
Durch das Vertauschen und Verdrehen von Bildern werden festgelegte Kontexte durchgeschüttelt, Freiräume zum Atmen erschaffen und Zugänge zu verschlossen geglaubten Phantasiewelten ermöglicht.
Bernhart Schwenk
Kurator für Gegenwartskunst, Pinakothek der Moderne München
Poetic Archaeology of Everyday Space
In many of her works Rose Stach deals with the processes of revealing, rendering visible or unfurling things anew in pursuit of her archaeology of everyday space.
In her photographical work Wallfahrtsorte I (Places of Pilgrimage I) a spiral-shaped Babylonian tower twists its way towards the sky; only upon closer examination does it turn out to be an ordinary roll of carpet. The artist’s intervention turns the floor covering into a picture, stripping it of its banal character and its unambiguousness. It is more than an object of decoration, heat protection, dirt resistance, sound insulation or representation; it becomes what it actually is: an autonomous form with an entirely ambiguous appearance. This in turn releases the power of the potential, leading to the revelation of what is concealed, to the break-up of a culturally solidified and one-sidedly conventionalised meaning.
In her work ‘Suddenly I saw strange ornaments on the floor’ a light-grey velour carpet transforms to become a road surface, in which relief-like marks from car tyres are imprinted. The carpet stands metaphorically for history and life.
Rose Stach’s tools are a pair of nail scissors, with which she cuts ornamental linear forms into the carpet, which ultimately serve to imitate the signs of wear, thereby representing life itself.
Images are exchanged and contorted, enabling a shake-up of established contexts, the creation of breathing space and access to imaginary worlds hitherto considered inaccessible.
Bernhart Schwenk
Chief Curator of Contemporary Art, Pinakothek der Moderne Munich